Get ’em out by Friday!

Get ’em out by Friday!

«Wirf sie bis Freitag raus!» befiehlt Spekulant John Pebble seinem Unterhund Mark Hall. Der theatrale Song Get ’em out by Friday! auf dem Genesis-Album «Foxtrot» lässt mich nicht mehr los, seit ich zu einem Spekulationsbau in unserer Nachbarschaft recherchiere.

Das Mascotte-Haus: ein Spekulationsbau aus den 60er Jahren an der Moosstrasse 15 in Luzern

Renditeobjekt

Auf diese recht üble Spekulationsgeschichte aus den 60er Jahren bin ich auf der Webseite unseres Quartiervereins Hirschmatt-Neustadt gestossen. Im Lead heisst es da: «Es ist das wohl hässlichste Gebäude im Hirschmatt-Quartier. Und zu seinem Äusseren passt auch seine Entstehungsgeschichte.» Das auffällige, halbrunde Gebäude war das erste Renditeobjekt des Immobilienspekulanten und Banken-Pleitiers Ralph Schmid.

Die Geschichte der Neustadt Luzern

Auf der Homepage des Quartiervereins Hirschmatt-Neustadt gibt es auch ein gut gemachtes Filmportrait unseres Quartiers von Jörg Huwiler: «Luzerns andere Seite – Willkommen in der Neustadt»

Ralph Schmid reduzierte die Geschosshöhen, so dass er bis zur Traufhöhe des Nachbarhauses nicht vier, sondern fünf Geschosse reinquetschen konnte.

Als er 1961 den Neubau an der Moosstrasse 15 erstellen liess, zeichnete er als Architekt verantwortlich, verfasst wurde das Projekt aber von einem Angestellten seiner Firma. Damals war es in Luzern gängige Praxis, bei der Erteilung von Baubewilligungen nur die Gebäudehöhe, nicht aber die Geschosszahl zu berücksichtigen. Deshalb konnte er die Geschosshöhen reduzieren und innerhalb der erlaubten Gebäudehöhe von 18 Metern ein Vollgeschoss mehr einfügen als üblich. Im Artikel ist von einer reduzierten Raumhöhe von 2.40 m die Rede, was der heutigen Norm entspräche und etwas über dem gesetzlichen Minimum von 2.30 m liegen würde. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es sich bei den erwähnten 2.40 m tatsächlich um die Geschosshöhe handelt, d.h. die Räume sind mit ca. 2.20 m unüblich niedrig. Ralph Schmids Schlaumeierei führte zu einer Interpellation des nachmaligen Stadtrates Bruno Heutschy im Grossen Stadtrat, der die Rechtmässigkeit der Baubewilligung bezweifelte. Der Luzerner Stadtrat hielt allerdings an der Bewilligung fest und verwies darauf, dass sich die niedrigen Raumhöhen wohnhygienisch nicht nachteilig ausgewirkt hätten.

Zum Vergleich:

Im Himmelrich 3 ist die Raumhöhe mit rund 2.65 Metern einiges höher als der Durchschnitt von 2.40 Metern bei Wohnungen in Neubauten.

Vermietungsbroschüre Himmelrich 3

Genesis-Stück

Ralph Schmids Reduktion der Geschosshöhen erinnerte mich an Get ‹Em Out by Friday von Genesis: Das achteinhalbminütige Stück auf dem 1972 erschienen Album «Foxtrot» ist ein gesellschaftkritisches Rock-Epos, das die Gier und das Auspressen der Mieter durch Immobilienspekulanten in Grossbritannien anprangert. Die Spekulantenfigur John Pebble steht für Peter Rachman, der mittels «Winkling» (einer Mischung aus Drohungen und Anreizen) Mieter mit niedrigen Mieten dazu brachte, aus seinen Immobilien auszuziehen, um sie rentabler umvermieten oder sanieren und neu vermieten zu können. Ausserdem kommen vor: «The Winkler» Mark Hall, der für Styx Enterprises arbeitet und als Mann fürs Grobe die Mieter rauswirft, und schliesslich Mrs Barrow, Mieterin in einer Styx-Liegenschaft, die kaum glauben kann, was ihr geschieht.

www.songtexte.com

Lyrics von «Get ’em out by Friday!»

Genetic Control

Im zweiten Teil des epischen Songs folgt dann eine in der Zukunft angesiedelte Ansage:

18/9/2012 T.V. FLASH ON ALL DIAL-A-SERVICES
This is an announcement from Genetic Control:
«It is my sad duty to inform you of a four foot restriction on humanoid height.»

Diese Höhenrestriktion der Humanoiden auf vier Fuss bzw. 1.20 m eröffne dem Immobilienbusiness ganz neue Perspektiven, munkelt Sepp Gewöhnlich im lokalen Puborama (als der Song entstand, gab es noch kein Internet und keine Social Media):

EXTRACT FROM CONVERSATION OF JOE ORDINARY IN LOCAL PUBORAMA
«I hear the directors of Genetic Control
have been buying all the properties that have recently been sold, taking risks oh so bold.
It’s said now that people will be shorter in height,
they can fit twice as many in the same building site.»

Angesichts der Aussicht, dass die Leute künftig kürzer sind, hätten die Direktoren von Genetic Control schon mal alle Liegenschaften aufgekauft, die kürzlich verkauft wurden, denn bald würden doppelt so viele in ein neues Gebäude passen. Und John Pebble? Inzwischen zum Ritter geschlagen, nennt er sich jetzt Sir John de Pebble und ist bei United Blacksprings International tätig. Mit Aussicht auf saftige Gewinne, reibt er sich die Hände und schickt seinen „Winkler“ los…

Ob Ralph Schmid auch einen „Winkler“ losschickte, um das Haus an der Moosstrasse 15 leeren, bevor er 1961 sein Renditeobjekt realisieren konnte, ist nicht bekannt. Zwar herrschte damals ziemlich grosse Wohnungsnot, aber wegen des schwachen Mieterschutzes genügte es wahrscheinlich, den MieterInnen zu kündigen, um sie zum Auszug zu bewegen. Interessant ist, dass er mit den niedrigen Geschosshöhen die düstere Zukunft im Genesis-Song schon vorwegnahm, indem so nicht gerade doppelt so viele, aber doch mehr Menschen ins Gebäude passen.

Comic-Version

«Get ’em out by Friday!» animierte den französischen Comiczeichner Jean Solé zu einer vierseitigen Comic-Version, die 1976 in Fluide Glacial #8 erschien:

kleefeldoncomics.com

Sean Kleefeld über Jean Solés Comic Book Version (mit allen vier Seiten des französischen Comics)

«Get ‚em out by Friday» als Comic von Jean Solé (Seite 3 von 4) (Quelle: kleefeldoncomics.com)

Pleitier

Der Schweizer John Pebble baute ein Immobilienimperium auf — „nicht selten auf Kosten seiner Partner“, wie die Bilanz im Jahr 1999 schrieb. Der 1928 geborene Ralph Schmid, Sohn eines St. Moritzer Hoteliers und gelernter Konditor, war aber auch an der Börse und als Banker aktiv: Bis 1989 hatte er gemäss «Bilanz» ein Vermögen von 300 bis 400 Millionen Franken angehäuft. Für sein Immobilienimperium und seine Finanzgeschäfte nutzte er seine an der Hirschmattstrasse 28 domilizierte Spar- und Hypothekenbank Luzern als Drehscheibe. Für jeden Kredit kassierte der hemdsärmlige John Pebble eine Extraprämie von 2%, die er sich auf sein Spezialkonto Gramar in Liechtenstein überweisen liess. Am 9. April 1990 wurde seine Bank wegen unseriöser Geschäftsführung behördlich geschlossen und danach zwangsliquidiert. Nach ihrem spektakulären Zusammenbruch mussten sich etliche Investoren Millionen ans Bein streichen. Und Ralph Schmid, der mit der Immobilienspekulation, die in den 80er Jahren grassierte, gegen eine halbe Milliarde angehäuft hatte, setzte sich nach Monaco ab und hinterliess in der Schweiz Steuerschulden von 23 Millionen. In der Schweiz ist er rechtskräftig verurteilt, aber am sonnigen Mittelmeer nicht zu fassen:

Die 250 Reichsten

Am Ende des letzten Jahrtausends gibt die «Bilanz» nicht nur eine Übersicht über die Reichsten im Lande, sondern auch über die Auf- und Absteiger der 90er Jahre, u.a. Ralph Schmids spektakuläre Geschichte.

Screenshot eines 10vor10-Berichts vom 14.7.1998. Aufs Bild klicken, um den aufschlussreichen Bericht über Ralph Schmid anzuschauen.

Der 10vor10-Beitrag vom 14.7.1998 zeigt den Pleitier Ralph Schmid im Steuerparadies Monaco, macht einen Rückblick auf den spektakulären Crash seiner Spar- und Hypothekenbank Luzern und wirft einen Blick auf seine 14-Millionen-Luxusvilla in Kastanienbaum, die das Luzerner Steueramt zwangsverwerten liess. Keine Ahnung, ob der Schweizer John Pebble noch lebt (er wäre über 90) und ob er das angenehme (Steuer-)Klima in Monte Carlo geniessen kann.

10vor10 vom 20.3.1998

Dieser 10vor10-Beitrag dreht sich um das Spekulanten-Duo Ralph Schmid und Werner Frutiger.

Auf dem Google-Streetview-Bild vom August 2014 war das Mascotte-Logo über dem Eingang noch da, erst seit kurzem ist es weg. Schade!

Mascotte-Haus

So oder so ist Ralph Schmids Hinterlassenschaft am Verblassen: Noch lange prangte über dem niedrigen Eingang des blauen Hauses an der Moosstrasse 15 das Logo der Mascotte Music Hall, die sich im Untergeschoss befand. Das Mascotte gehörte zu den ersten Musikclubs in Luzern, wo lokale, aber auch internationale Bands auftraten. Neben dem Casino, dem Bristol und dem Hazyland war es in den 60er Jahren wohl das beliebteste Musik- und Tanzlokal der Stadt

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M wie Moosstrasse

Der Quartierverein Hirschmatt-Neustadt ist die wichtigste Quelle für diese Geschichte über das Mascotte-Haus und seinen Erbauer.

Das Interieur der Mascotte Music Hall im Luzerner Tagblatt vom 23.3.1962

16. Februar 2021
Hansruedi Hitz