Die grüne Tomate

Die grüne Tomate

Eine Tomate entdeckt mit Schrecken: Alle ihre Schwestern werden rot. Nur sie bleibt grün. Sie will dagegen unbedingt etwas unternehmen.

Irgendwo auf dem Lande in einem wunderschönen Gemüsegarten standen an einem sonnigen Platz saftig grüne Tomatenstauden. Sie wurden von der Gärtnerin gehegt und gepflegt. Sie erhielten genug Wasser und ab und zu ein bisschen biologischen Dünger. Die Gärtnerin legte grossen Wert darauf, die Tomaten in einem gesunden Nährboden wachsen zu lassen. Die Tomatenstauden fingen bald an zu blühen, und bald darauf wuchsen schön grosse Tomaten. Die Gärtnerin erfreute sich an ihren Tomaten, die Tag für Tag reifer und röter wurden.

Nur eine der Tomaten, die ein bisschen hinter den grünen Blätter hing, blieb grün. Die Gärtnerin konnte den Grund dafür nicht verstehen. Die grüne Tomate bekam gleichviel Sonne und Wärme wie die anderen Tomaten. Die Tomate wurde zusehends unglücklicher und auch eifersüchtig auf die anderen Tomaten. Sie sah wie die reifen Tomaten von der Gärtnerin jeden Tag mit Liebe abgelesen wurden. Die Tomate sah auch, dass die Karotte und der Lauch mit ihrem grünen Krautkleid ohne viel Sonne, aber mit der Kraft der Erde sich entfalteten und dicker und dicker wurden. Sie verstand die Gemüsewelt nicht mehr. Sie hatte sich so eingerichtet, dass die Sonne sie gut bescheinen konnte. Doch ohne ersichtlichen Erfolg. Die Tomate grübelte und konnte nachts nicht mehr schlafen. Irgend etwas musste sie falsch machen, dachte sie.

Es vergingen Tage. Ihr Tomatenkleid blieb einfach grün. Es musste etwas geschehen. Ihre Gedanken wurden ganz wirr und sie wurde immer trauriger und trauriger. Doch aufgeben wollte sie nicht.

Sie dachte sich unglaubliche Geschichten aus und hoffte, dabei zu erröten. Doch auch dies fruchtete nichts.

Eines Nachts als die anderen Tomaten schliefen, wandelte sie umher, um den Mond zu finden und ihn um Hilfe zu bitten. Sie wusste von ihm, dass auch er sich immer in einer anderen Gestalt zeigte. Mal war er dick und rund, mal war er ganz fein und dünn. Doch die Tomate merkte bald, dass auf den Mond kein Verlass war, denn es gab Zeiten, da war der Mond überhaupt nicht zu sehen. Auch diesmal fand sie ihn nicht. Sie hatte den Verdacht, dass er sich versteckte, weil er für das Problem der Tomate keine plausible Erklärung hatte. Einmal mehr war die grüne Tomate enttäuscht und kehrte wieder an den Platz in der Tomatenstaude zurück. Niemand versteht mich, dachte sie und schlief mit Tränen in den Augen ein.

Die grüne Tomate musste miterleben, wie die anderen Tomaten nach und nach abgelesen wurden. Sie musste sie sich ganz schnell etwas neues einfallen lassen und hatte bald einen genialen Einfall.

In der Nachbarschaft des Gemüsegartens hatte ein Maler seine Werkstatt. Die grüne Tomate wartete ungeduldig auf die Nacht und hoffte sehr, dass der Mond in der Nähe sein werde, damit er ihr mit seiner Helligkeit den Weg zeigen konnte. Bald wurde es Nacht. Als alle Gemüse schliefen, schlich sich die grüne Tomate davon. Sie kugelte durch die Beete und begegnete der dicken Karotte mit ihrem grünen Krautkleid, die noch nicht schlief. Die Karotte fragte die Tomate, ob sie ihr helfen könnte. Ja, sagte die Tomate und beide machten sich auf den Weg zur Malerwerkstatt. Während sie Richtung Werkstatt liefen, erzählte die Tomate der Karotte ihr Problem und ihr Vorhaben. Die Karotte konnte die Tomate gut verstehen und war ganz begeistert von der tollen Idee.

Bei der Werkstatt angelangt, versuchten beide, irgendwie in das Atelier hineinzukommen. Sie hatten Glück, die Hintertüre stand einen kleinen Spalt offen, gerade soviel wie die Karotte und Tomate brauchten, um hinein zu schlüpfen. Sie zogen ihre Bäuche ein und zwängten sich in die Werkstatt. Es standen ganz viele Farbkübel herum. Die Tomate und die Karotte fingen an zu lesen, und es ging nicht lange, da entdeckten sie einen Kübel mit roter Farbe. Der Deckel klebte ein bisschen. Mit vereinigten Kräften öffneten sie ihn bald einmal.

Die Karotte steckte ihr Krautkleid in die rote Farbe und pinselte ganz vorsichtig die Tomate rot an. Die Tomate kicherte und freute sich wie ein kleines Kind, denn es kitzelte sie überall. Endlich hatte sie ihr rotes Kleid. Die Tomate stand ganz still, denn die Farbe musste trocknen. Während die Tomate sich trocknete wusch sich die Karotte ihr Krautkleid und trocknete sich mit einem Handtuch, das beim Waschbecken hing, ab. Als die Karotte die Tomate sah, waren beide mit dem Resultat zufrieden. Doch die Karotte spürte ein gewisses Unbehagen.

Bald darauf wanderten die beiden zurück in den Garten. Der Mond erhellte ihnen den Weg und freute sich, die Tomate so glücklich zu sehen. Im Garten angelangt legte sich die Karotte in die Erde und schlief sofort ein.

Die Tomate hingegen blieb noch ein wenig wach. Sie und schaute von allen Seiten auf sich herunter. Dann legte auch sie sich zufrieden in die Stauden zurück und schlief ein. Die Tomate fiel schnell in einen schönen Traum. Sie sah darin die Gärtnerin, die nun endlich auch sie ganz behutsam und liebevoll pflückte, in den Korb legte und mit in die Küche nahm.

Plötzlich, im Morgengrauen, wurde die Tomate von einem heftigen Donner und vom Blitzlicht aus dem Traum geweckt. Bald darauf fielen dicke Regentropfen. Die Tomate versuchte, sich unter den Blättern der Tomatenstaude zu verstecken und zu schützen. Doch es nützte nichts. Mit Entsetzen musste sie bald feststellen, dass die rote Farbe ganz langsam von ihr lief. Die Tomate fing an zu weinen. Sie konnte es nicht fassen. Sie stand wieder ganz grün da. Sie fühlte ihren Schmerz, und ihre Enttäuschung war gross. Sie wünschte sich so sehr, dass sie jemand in den Arm nehmen würde.

Vom lauten Donner, vom Blitzlicht und von den Regentropfen wachte natürlich auch die Karotte auf und hörte die Tomate ganz leise weinen. Ein Gedankenblitz, Farbe und Regen, fuhr ihr durch den Kopf.

Schnell ging sie zur grünen Tomate nahm sie in den Arm und tröstete sie. Die Tomate war untröstlich und ein Tränenregen fiel über sie und wischte noch den Rest der Farbe von ihrem Kleid.

Nach einer Weile, als die Tomate sich ein bisschen erholt hatte, sagte die Karotte leise zur Tomate: «Weißt du, wenn ich ganz ehrlich bin, gefällst du mir mit deinem grünen Kleid viel besser. So bist du für mich einzigartig, authentisch und natürlich.» Auch der Mond, der inzwischen hinter den Wolken hervorgekommen war, nickte mit dem Kopf und hatte einen liebevollen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er konnte die Tomate so gut verstehen…

1. Juni 2020
Margrith Schürmann