Die Geisterhäuser
Es war in einer lauen Nacht im August. Ich stand auf unserer Loggia, glücklich angesäuselt nach einer charmanten Dachparty, unserer ersten. Mein Blick schweifte über die Fenster der Häuserzeile gegenüber – es sind jene der alten Claridenstrasse, sie waren leer und schwarz wie die Nacht selber. Nur in einem der Fenster sah ich etwas Smaragdgrünes leuchten. Kleine Gestalten huschten über das Grün. Es war ein Fussballrasen auf einen Bildschirm. Dort drüben schaut jemand einen Fussballmatch! Nein, das kann nicht sein! Die Häuser sind doch leer. Da ist niemand mehr! Es kroch mir kalt den Rücken hinunter.
Seit bald zwei Monaten wohnten wir damals in der neuen Claridenstrasse. Wir hatte zusehen können, wie drüben die Nachbar*Innen auszogen. Auf unserer Seite standen Möbelwagen und leerten sich. Gegenüber standen Möbelwagen und füllten sich – das Mobiliar auf unserer Seite war tendenziell teurer als dasjenige gegenüber. Bei uns war alles ganz neu. Die Häuser drüben stammen aus einer Zeit, als man Kühlschränke noch auf den nach Norden blickenden Küchenbalkonen baute. Am Anfang waren drüben noch Familien, denen ich mittags fast in die Kochtöpfe auf dem Herd blicken konnte. Dann verschwanden die Kinder und die Kochtöpfe. In der Nummer 3 füllte einer seinen Balkon mit unsäglichem Grümpel, ein Messie, dachte ich – das wird nun alles dort liegen bleiben. Am nächsten Tag war alles verschwunden. Oben standen die Dachfenster offen, Tauben flogen in die Waschküchen. Ein kleiner Kosmos schickte sich an unterzugehen.
Und doch waren die Häuser nicht menschenleer. Die Zwischennutzung bahnte sich an – nur in den Nummern 1 und 2, hiess es. Doch auch in den anderen Häusern öffneten und schlossen sich manchmal Fenster wie von Geisterhand, huschten Schatten durch die Räume. Männer in Bauarbeitergwändli rissen kaputte Holzmöbel aus der Nummer 2. Plötzlich hing ein Transparent aus der Nummer 3 und eines Samstagnachmittags stieg Rauch aus einem Küchenfenster in der Nummer 4.
Und jetzt, mitten in der Nacht, schaute jemand einen Fussballmatch gleich gegenüber, in einem leeren, alten Haus. Ich schaute hinüber, versuchte zu erkennen, ob da jemand war. Zweifelte an meinem Verstand. Ich brauchte etwa zwei Minuten, bis ich begriff: Das waren keine Gespenster! Da schaute bei uns im unteren Stock jemand einen Fussballmatch. Und das Grün auf seinem Bildschirm spiegelte sich in einem Fenster der alten Claridenstrasse.
Später war noch viel Betrieb in den Häusern da drüben. In den letzten Tagen der Zwischennutzung muss eine höllische Party abgegangen sein. Aber bald sind sie dem Erdboden gleich, nach 85 Jahren. Eine Epoche geht zu Ende. Auch für uns – die erste Epoche an der neuen Claridenstrasse. Die Epoche mit den Geisterhäusern.
Liebe Daniela, welch schöner und berührende Nachgesang auf das Haus an der Claridenstrasse… Fast packt mich als Bewohnerin des Himmelrich3 (mit allen Schikanen in der schönen neuen Wohnung) das schlechte Gewissen der Privilegierten. Nein, nicht nur FAST…
Es grüsst Dich Alma an der Bundesstr. 14 im 6. Stock.
Liebe Alma, vielen Dank für Deinen Kommentar – es freut mich, Dich hier schriftlich näher kennenzulernen, ich kenne ja Deine Tochter! Das schlechte Gewissen der Privilegierten packte mich auch ein wenig, als ich die Familien gegenüber wegziehen sah. “Hilfe, wir sind die Gentrifikation!” dachte ich. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, sind Hansruedi und ich doch ins Himmelrich gezogen, weil unsere alte Wohnung abgerissen werden soll. Ich fühlte mit allen, die da wegziehen mussten. Herzliche Grüsse an die Bundesstrasse!
Liebe Daniela
Da ich ja hinter der neuen Häuserreihe Claridenstrasse wohne, bekomme ich nichts mit vom Vergänglichen der alten Häuserreihe Claridenstrasse, um so mehr freut es mich von dir diese wunderbaren Beobachtungen zu erfahren.
Danke und liebe Grüsse Margrith
Danke, Margrith! Ist ja auch schön, dass ein paar von den Leuten drüben jetzt an unserem Hof wohnen 🙂