Die fremde Henne im Korb

Fremde Henne im Korb

Eine Geschichte über den Umgang mit dem Fremden — geschrieben und illustriert von Himmelrich 3-Bewohnerin Margrith Schürmann.

Fremde Henne im Korb (Illustration von Margrith Schürmann)

Ein etwas älterer Hahn stolziert mit erhobenem Haupt im Hühnergarten und auf der grünen Wiese herum. Der Gang ist langsamer geworden. Doch er ist sehr aufmerksam. Er sieht, spürt und hört alles. Er hat sein Revier immer noch gut im Griff.

Eines frühen Morgens beim Wecken der Hennen bemerkt der Hahn, dass irgendetwas anders ist als sonst. Er hört seine Hennen ganz laut gackern. Sie gackern sonst nie. Sie alle kommen normalerweise ganz leise und gemächlich in den Hühnergarten, denn auch sie sind nicht mehr die Jüngsten.

Doch an diesem Morgen laufen sie etwas schneller und benehmen sich eigenartig. Der Hahn kann diese Reaktionen gar nicht verstehen. Er schaut nach jeder Henne und kann sich keinen Reim darauf machen wieso seine Hennen so unruhig sind.

Plötzlich laufen die Hennen auseinander und der Hahn kann seinen Augen nicht trauen. Im Eierkorb, der mit Stroh gefüllt ist, sitzt eine ganz junge und überaus hübsche Henne. Wo kommt denn diese fremde Henne her, wieso hat sie ein schwarzes Federkleid und warum spricht sie kein Wort. Der Hahn ist etwas verlegen und weiss gar nicht recht, wie er mit diesem jungen Ding umgehen soll..

Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und nähert sich dem Korb. Normalerweise legt die Bäuerin die Eier in diesen Korb. Die Bäuerin ist aber ein paar Tage weggefahren und der Bauer hat ganz vergessen die Eier einzusammeln und in den Korb zu legen.

Diese Situation hat diese fremde Henne schamlos ausgenutzt. Sie hat sich einfach in den Korb gelegt. Sie war müde vom langen Weg, der hinter ihr lag. Sie hat sich auch gar nichts dabei gedacht. Das passte dem Hahn gar nicht, denn seine Hennen wurden immer grantiger. Sie fingen an den ganzen Boden im Hühnergarten aufzuscharren. Er wusste allerdings nicht, wie er diese schwarz gefiederte Henne loswerden kann. Da sie so hübsch aussah getraute er sich nicht die Henne sofort wieder fortzujagen. Eigentlich passt sie so gar nicht zu seinen alten Hennen.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Er wusste auch nicht, ob die Bäuerin und der Bauer einverstanden wären, wenn diese fremde Henne auf dem Hof bleiben würde.

Die schwarz gefiederte junge Henne schlief immer noch tief und fest im Korb und merkte nichts von der Aufregung im Hühnergarten. Nach einer Weile beruhigten sich die Hennen etwas und standen ganz gespannt um den Korb herum. Sie alle wussten nicht, wie es jetzt weitergehen sollte.

Plötzlich räkelt und streckt sich die schwarze junge Henne. Ganz langsam öffnet sie ein Auge und dann das zweite. Sie erschreckt sich beim Anblick der vielen weiss gefiederten Hennen und dem Hahn. Sie merkt, dass sie anders aussieht als die vielen alten Hennen.

Ganz verlegen hüpft sie aus dem Korb. Schaut sich herum und überlegt wohin sie nun gehen könnte. Schritt für Schritt versucht sie aus dem Hühnergarten zu laufen. Stopp, ruft der Hahn, dageblieben. Wohin willst du? Die fremde Henne überlegt und meint ganz scheu, ich gehe weiter. Ich schaue, ob ich eine neue Bleibe finden kann.

Die Hennen und der Hahn schauen einander an. Fast kullern die Tränen aus ihren Augen. Wohin willst du denn gehen, fragt der Hahn. Weiss nicht, meint die fremde Henne. Irgendwohin wo es Platz hat für mich und wo ich nicht fortgejagt werde.

Wie aus der Kanone geschossen gackern alle Hühner, nein das kommt gar nicht in Frage, wir finden sicher eine Lösung.

Ganz scheu und leise meint die schwarze junge Henne, das wäre natürlich wunderbar und ich könnte mich ja bei euch allen nützlich machen.

Nützlich machen, oh ja gar kein so schlechter Gedanke. Der Hahn nähert sich ganz langsam der schwarzen jungen Henne. Wie meinst du denn das, fragt er ganz höflich. Oh da fallen mir viele Ideen ein, z.B. könnte ich am Morgen den Hühnergartenboden oder die Wiese aufkratzen, damit die Hennen leichter zu den Körnern und Würmern kommen oder ich könnte auf deine Hennen aufpassen, während du vielleicht einen Mittagsschlaf hältst oder ich könnte den Hennen Geschichten erzählen oder ich könnte den Eierkorb bewachen, damit die Bäuerin die Eier hineinlegen kann oder oder oder…..

Der Hahn und die Hennen hören ganz aufmerksam zu.

Gut, meint der Hahn, probieren wir es doch mal, wir vereinbaren eine Probezeit von drei Wochen.

Das ist wunderbar, das macht mich sehr glücklich. Die schwarze junge Henne hüpft im ganzen Hühnergarten herum und freut sich. Die alten Hennen schauen ganz verdutzt zu. Tanzen wäre auch eine gute Idee, das hält fit, rufen die Hennen gemeinsam und die eine oder andere versucht ganz verschämt das eine oder andere Bein zu heben.

Plötzlich kräht der Hahn wie verrückt, die Hennen wissen überhaupt nicht was los ist. Jetzt ist genug, meint er etwas verdrossen. Das Ganze war doch etwas zu viel für ihn, denn er möchte doch auf keinen Fall das Zepter aus der Hand geben. Die schwarze junge Henne ist  ihm etwas suspekt, denn die alten Hühner sind sehr begeistert von ihr.

Die alten Hennen und die schwarze junge Henne haben es gut zusammen. Sie verbringen viel Zeit miteinander. Eines Tages fragt eine etwas neugierige alte Henne, woher sie den eigentlich komme. Oh, das ist eine lange Geschichte. Die alten Hennen drängen die schwarze junge Henne, ihnen doch ihre Geschichte zu erzählen. Gut, meint sie, heute Nachmittag treffen wir uns alle auf der Wiese hinter dem Bauernhaus unter dem Lindenbaum.

Um Punkt dreizehn Uhr stolziert eine nach der anderen auf die Wiese. Die alten Hennen haben sich heraus geputzt, das Federkleid ist ganz weiss und der Kamm leuchtet rot in der Sonne. Das freut die schwarze junge Henne sehr. Auch ihr schwarzes Federkleid glänzt.

Als alle beisammen sind, setzt sich die schwarze junge Henne etwas erhöht auf eine Kiste, die sie vorher mit Stroh bedeckt hatte. Von dieser Position aus kann sie alle Hühner bestens sehen. Sie schaut in die Runde und bemerkt, dass der Hahn nicht gekommen ist. Schade, denkt sie.

Sie fängt an ihre Geschichte zu erzählen

Ich habe einen sehr weiten Weg hinter mir, der mich über Berge, durch Täler und entlang Seen führte. Ich bin in einem Hühnergarten gross geworden, mit vielen weissen Hennen und einem weissen Hahn. Als ich aus dem Ei geschlüpft bin, bemerkte ich, dass ich eine ganz andere Federfarbe hatte als die anderen. Am Anfang war das irgendwie kein Problem doch mit der Zeit fingen die weissen Hennen an mich auszugrenzen. Keine der Hennen wollte etwas mit mir zu tun haben. Ich kam auch nicht mehr an den  Futternapf, denn sie versperrten mir den Weg. Oft blieb ich hungrig abseits stehen. Ich fühlte mich wie das schwarze Schaf in einer weissen Herde. Ich versuchte mich zu wehren, doch ich scheitere kläglich.

Ich war oft traurig, weinte und konnte die Welt nicht verstehen, doch ich wusste, eines Tages gehe ich weg von dieser unfreundlichen Hühnergruppe.

Ich konnte nicht verstehen, wieso ich so schlecht behandelt wurde. Ich wusste eigentlich genau, dass es irgendwo einen Hühnerhof mit liebenswürdigen und verständnisvollen Hennen geben würde.

Auf dem Weg hierher versuchte ich in verschiedenen anderen Hühnergärten Zuflucht zu finden, doch ich wurde immer wieder verscheucht und weggejagt. Doch jetzt bin ich bei euch und hoffe sehr, dass ich noch ein bisschen länger bleiben darf.

Die schwarze junge Henne schaut in die Runde und sieht, dass die alten Hennen ihre Köpfe gesenkt haben und ihre Augen ganz wässerig sind.

Plötzlich bemerkt die schwarze junge Henne den Hahn, der sich ganz leise und mit zerzausten Federn während dem Erzählen in die Runde gesetzt hatte. Er sieht ganz verschlafen aus und auch er kämpft mit den Tränen.

Mit einem Ruck, plustert sich der Hahn auf und bringt seine Federn wieder in Ordnung. Ich bin zwar spät gekommen, sagt der Hahn, aber ich habe mir etwas überlegt. Wie wäre es, wenn wir dich schwarze junge Henne für immer aufnehmen würden. Du bringst frischen Wind und mit einem verschmitzten Gesicht meint er und auch frisches Blut.

Auf einmal strecken auch die Hennen ihre Köpfe in die Höhe, fangen an sich auf zu plustern und tanzen wie wild im Hühnergarten herum. Sie nehmen die junge schwarze Henne in den Kreis und gackern ein Lied nach dem anderen.

Der Hahn sitzt etwas abseits und beobachtet seine Hennen. Er ist ganz zufrieden und hat ein Lächeln auf dem Gesicht.

30. September 2019
Margrith Schürmann