Der kleine Stern

Der kleine Stern

Ein kleiner Stern ist völlig durcheinander und versteht die himmlische Welt nicht mehr. Etwas ist total aus dem Ruder gelaufen, findet er. Seit geraumer Zeit sucht der kleine Stern wie verrückt einen Platz am Himmel.

Der kleine Stern. Illustration: Margrith Schürmann

Von der Erde aus gesehen, stehen am Himmel Abertausende von Sternen. Man muss doch meinen, es gibt Platz für alle. Der Himmel erscheint uns gross und unendlich. Und doch kämpft ein kleiner, etwas schwach leuchtender Stern um seinen Platz. Da er klein und unscheinbar ist, möchte er natürlich einen Platz in der ersten Reihe.

Irgendwie ist alles überfüllt. Jeder Platz scheint belegt zu sein. Wie kommt das nur? Es scheint ein Gerangel und ein Chaos der Sterne zu geben. Nirgends findet der kleine Stern einen Platz, um hell und klar zu leuchten. Ist es vielleicht so wie auf der Erde, wer einen Platz sucht, muss ihn reservieren? Der kleine Stern wundert sich. Er hat noch nie gehört, dass es eine Reservation braucht, um am Himmel leuchten zu dürfen. Es kommt ihm irgendwie komisch vor. Oder gibt es irgendwo eine Sternenschlange, wo man anstehen muss? Der kleine Stern hat zwar auch schon mal gehört, dass es so neumodische Sitten und Bräuche am Himmel gibt. Doch der kleine Stern hat noch nie irgendetwas in der Sternenzeitung gelesen. Vielleicht hat er mal etwas verpasst, als er auf Wanderschaft war. Wenn das so ist, wäre dies schon ganz blöd.

Der kleine Stern überlegt und fängt an, die anderen Sterne zu fragen. Keiner der Sterne hat Zeit zuzuhören. Das ist doch nicht normal, denkt der kleine Stern. Bin ich vielleicht am falschen Himmel. Soweit er weiss, gibt es aber nur einen Himmel. Er kennt den Himmel ganz genau, mal ist er ganz hellblau, mal dunkelblau wie in der Nacht, mal gibt es viele Wolken, die vorüber ziehen, mal stürmt es, mal schneit es, mal regnet es und ganz oft scheint die Sonne.

Der kleine Stern weiss auch, dass es Hierarchien am Himmel gibt. Da ist der kleine oder der grosse Wagen, die Milchstrasse, der Mond, die Sonne, die vielen Himmelskörper oder auch diese fremden Dinger, die anscheinend von der Erde aus abgeschossen werden. Die alle haben ihren Standplatz. Da darf man sich auf keinen Fall hinstellen, sonst gibt es gewaltigen Zoff. Der kleine Stern merkt, dass alles Grübeln nichts bringt. Es müssen Taten her. Vor lauter Denken schläft der kleine Stern ein.

Plötzlich knallt es am Himmel und der kleine Stern wacht auf. Was war das? Im letzten Moment sieht er eine Sternschnuppe. Wie war doch das auf Erden: Wer eine Sternschnuppe sieht, darf sich was wünschen? Der kleine Stern drückt ganz fest seine Sternzacken zusammen und wünscht, dass er seinen lang ersehnten Platz finden kann, von wo er eine prächtige Aussicht auf die Erde hat. Nebst dem grossen Wunsch möchte auch er so schön scheinen können wie die anderen Sterne.

Der kleine Stern überlegt erneut, wie er vorgehen soll. Die Ideen kommen und gehen, nichts gefällt dem kleinen Stern. Er wandert zwischen den vielen Sternen und muss aufpassen, dass er die anderen Sterne nicht hin und her schubst. Er sieht die Blicke der Sterne. Die sind eher unfreundlich. Um diesem Gerangel aus dem Weg zu gehen, entschliesst sich der kleine Stern, auf die Erde auszuweichen.

Aber da ist schon das nächste Problem. Die Erde ist so weit entfernt. Er braucht Jahre, bis er ankommen kann und er weiss auch nicht, ob er auf der Erde überhaupt willkommen ist. Was soll er nur tun? Vielleicht ist es ihm zu kalt oder zu heiss da unten und so wie er in der Sternenzeitung gelesen hat, gibt es auch nicht mehr so viel Platz. Wie er es dreht und wendet, die Überlegungen werden immer diffuser.

Auf einmal gibt es wieder diesen Knall. Er schaut sich um und sieht im letzten Moment wieder diese Sternschnuppe. Mit der Kraft, die im bleibt, leuchtet der kleine Stern ganz fest und versucht die Sternschnuppe zu blenden. Mit einer Vollbremse bleibt die Sternschnuppe vor dem kleinen Stern stehen. Etwas aus der Puste und eher verärgert fragt sie, was das soll. Du hast mich geblendet und beinah bin ich in dich gerast. Ganz erschrocken sagt der kleine Stern zur Sternschnuppe: „Entschuldige, aber ich brauche dringend Hilfe.“ „Hilfe brauchst du“, meint die Sternschnuppe. „Ja“, sagt der kleine Stern, „ich muss dringend auf die Erde, weil es auf der Erde viel mehr Platz zum Scheinen hat als am Himmel. Und da du viel schneller bist als ich, möchte ich gerne mit dir fahren.“ „Gut“, meint die Sternschnuppe, „dann setz dich doch mal auf meinen Schweif, mal sehen, ob wir das zusammen schaffen.“

Und wirklich schaffen die beiden die rasante Reise auf die Erde. Am Ende der Reise plumpst der kleine Stern in ein kaltes Wasser. „Oh, was ist das?“, fragt der kleine Stern. „Das ist das Meer in der Antarktis“, meint die Sternschnuppe. „Hier gibt es ganz viel Platz. Viele Eisschollen und Eisberge, wo du dich niederlassen kannst.“ „Aber, aber, aber“, stottert der kleine Stern, „aber da ist niemand zu sehen und es ist saukalt.“ „Na ja, es gibt eben überall Vor- und Nachteile.“

Auch diese Idee findet der kleine Stern gar nicht gut. Er fühlt sich sehr einsam und verloren in diesem Eismeer. Vor lauter Kälte und Müdigkeit fängt der kleine Stern an zu weinen. Die Sternschnuppe schaut den kleinen verzweifelten Stern an und meint: „Ich glaube, ich habe die zündende Idee.“ „Zündende Idee, meinst du, und es knallt richtig und dann habe ich meinen eigenen Platz?“, fragt der kleine Stern. „Ja genau“, sagt die Sternschnuppe. Der kleine Stern wurde ganz zappelig und nervös. „Und wie soll das gehen? Sag schon!“

„Also wir machen das folgendermassen“, meint die Sternschnuppe. „Ich zünde meinen Schweif, wir fliegen wieder zurück zum Himmel und lassen es so richtig knallen. Mal sehen, ob wir nicht einen geeigneten Platz für dich finden. Ich bin sicher, die Sterne rücken ein bisschen zusammen und du findest deinen gewünschten Platz, wo du all die Jahre scheinen kannst.“

Am traurigen Gesichtsausdruck sieht die Sternschnuppe, dass der kleine Stern noch nicht ganz zufrieden ist. „Ist etwas?“, fragt die Sternschnuppe. „Alles ist ja soweit gut, aber ich habe einfach nicht die Kraft, so hell zu leuchten wie die anderen Sterne am Himmel“, meint der kleine Stern. „Keine Sorge“, sagt die Sternschnuppe, „dafür habe ich auch gesorgt. Ich leihe dir für dein ganzes Sternenleben etwas Zündstoff, damit du auch richtig hell scheinen kannst.“ Der kleine Stern ist voller Freude und kann es kaum fassen, dass er eine so freundliche und verständnisvolle Sternschnuppe getroffen hat. Es ist so schön, dass man sich immer wieder auf Andere verlassen kann.

Mit einem lauten Knall machen sich die Sternschnuppe und der kleine Stern wieder auf den Rückweg. Einmal am Himmel angekommen, sehen die beiden, wie die Sterne, einer nach dem andern, zusammenrücken. Plötzlich scheint alles so einfach zu sein. Der kleine Stern hat seinen Platz gefunden. Die Sternschnuppe verabschiedet sich winkend. Beim Abschied meint die Sternschnuppe: „Ich bin immer für dich da.“

Als Dankeschön leuchtet der kleine Stern ganz hell und glitzert in der dunklen Nacht. Vor lauter Aufregung hat er gar nicht gemerkt, dass er sogar in der ersten Reihe steht und dass seine Sicht bis auf die Erde reicht. Sein grosser Wunsch ist nach ein paar Unannehmlichkeiten doch noch in Erfüllung gegangen.

(2013/2014)

13. Dezember 2019
Margrith Schürmann